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Donnerstag, 9. Dezember 2021
Dienstag, 16. November 2021
podcast12fs2
Die Themen in der Übersicht
- Kunst und Kultur als Einflussfaktoren auf die Lebenswirklichkeit
- Definitionen und unterschiedliche Aspekte des Begriffs „Kultur“
- Kunst und Kultur als Entfaltungsraum der Persönlichkeit
- Alltagskultur als identitätsstiftendes Merkmal, z. B. Subkulturen, Jugendkulturen, Sport
- Bürgerschreck Joseph Beuys
Dienstag, 9. November 2021
Sonntag, 7. November 2021
Werktreue s. Regietheater
Pro und Contra: Kritik
am Regietheater
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat zum Auftakt der
Salzburger Festspiele das deutsche Regietheater scharf kritisiert. Ist
Kehlmanns Tadel gerechtfertigt?
PRO
Es ist doch einfach nur ein kleiner
Irrtum. Das Wort Theater wird falsch eingesetzt. Das Regietheater ist doch
wunderbar. Selbst Kehlmann schaut sich die jeweils üppigsten Blüten des
aktuellen Event-Schmarrns gerne an, und ich auch, jeder tut es. Mit Theater hat
es natürlich nichts zu tun. Deshalb sollte auch nicht Theater draufstehen,
nicht Goethe, Wedekind oder Strindberg. Nur würde dann niemand Geld dafür
bezahlen: nicht der Staat, und nicht die Bürger. Eine milliardenschwere
Industrie verschwände so unvermittelt wie vor 20 Jahren die DDR. Und danach
würde niemand zugeben, mitgemacht zu haben.
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Und es wird so kommen. Denn die
Argumente des Regietheaters stimmen einfach nicht. Argument eins: Die
beliebigen Einfälle der Regisseure seien ein Ausdruck des Stücks. Oder des
Regisseurs. Oder überhaupt Ausdruck für irgendetwas. Sind sie aber nicht. Bitte
gehen Sie bei nächster Gelegenheit in ein Theater next door und sagen Sie mir
dann, ob der bunte Zirkus einen inneren Zusammenhang gehabt hat. Nein, es sind
beziehungslose Effekte, und sie stehen nur für sich selbst. Es ist dummes
Zeitfüllen. Die Leute über den Abend bringen. Indem man sie in jeder Sekunde
irgendwie beeindruckt und ablenkt.
Argument zwei: Es kommen mehr Menschen
denn je in die Theater. Nein, sie kommen in den Zuschauerraum, aber nicht, um
ein Theaterstück zu sehen. Wer das sehen will, bleibt zu Hause. Deswegen hat
Kehlmann recht, wenn er sagt, das Theaterpublikum würde heute Bücher lesen und
"Curb your Enthusiasm" gucken, also heruntergeladene intelligente
US-Serien. Die Bühnen haben das Theaterpublikum verloren und dafür ein
zahlenmäßig größeres Zirkuspublikum gewonnen. Das finde ich in Ordnung. Wir
sind ein freies Land.
Aber diese notgeilen Spießer, die sich
zu Hause langweilen und sich nicht in die Kinos trauen, weil sich dort die
Jugend tummelt, sollen keinen Cent Staatszuschuss für ihr Plaisir bekommen. Es
sei denn, auch der Bordellbesuch wird ab sofort alimentiert.
JOACHIM LOTTMANN ist Schriftsteller
CONTRA
Wer regelmäßig Sonntagabend "Tatort" schaut, hat bald
mehr So-lala- und Kennen-wir-schon-Krimis als Storys, die ihn vom Hocker hauen,
gesehen. Wen es oft auf die Tribünen seines Fußballvereins zieht, der stöhnt
regelmäßig über mehr schlechte Spiele als gute. Den Fan betrübt das, er bleibt
trotzdem dabei. Der Masochismus dessen, der viel ins Theater geht, ist
womöglich etwas größer.
Dass es mehr So-lala- und Kennen-wir-schon-Inszenierungen denn
glückliche Neuentwürfe einer Welt im deutschsprachigen Theater gibt, ist somit
nur für denjenigen ein Argument gegen das Genre, wer in ihm sowieso nicht zu
Hause ist. Daniel Kehlmann hat sich in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger
Festspiele als ein solcher geoutet.
Für einen bekennenden Nichttheatergänger, der die Urteile
ausländischer Besucher für seine Begründung heranziehen muss, hat er dem
Theater mit seinem pauschalen Ideologieverdacht gegen das Regietheater dennoch
einen großen Gefallen getan. Seine Rede war eine hervorragende
Beschäftigungsmaßnahme für die Theaterkritik in der Sommerpause. Sie hat
Kehlmann die Rolle des bösen Buben abgenommen. Das ist dem Autor, der seit dem
Erfolg seines Romans "Die Vermessung der Welt" wohl von zu viel
Streicheleinheiten ermüdet ist, zu gönnen.
Der Vorwurf Kehlmanns, das Regietheater sei eine letzte
Schrumpfform linker Ideologie, entbehrt nicht der unfreiwilligen Ironie. Das
Theater, mal eben so pauschal wie Kehlmann gesprochen, wäre ja gerne mehr
links, weiß aber auch nicht mehr ganz genau, wo das liegt.
Der Mangel an Utopien von größerer sozialer Gerechtigkeit ist
eines seiner Themen, und das Leiden an diesem Defizit wird offen zur Schau
gestellt. Die Suche nach ästhetischen Sprachen, die die Grenzen zwischen
separierten Milieus durchbrechen können, ist dabei ein Mittel. Es gehört eine
gehörige Portion Ignoranz dazu, diese Suchbewegung mit einem Verbeißen in eine
Ideologie, die schon immer weiß, wo es langgeht, zu verwechseln.
KATRIN BETTINA MÜLLER ist Theaterredakteurin der taz
https://taz.de/Pro-und-Contra/!5158742/